Personal in Kitas fehlt
Fachkräftemangel in Kitas: Offener Brief warnt vor Totalausfall
Hessen und Rheinland-Pfalz sind von einem beträchtlichen Kita-Platz-Mangel betroffen. Dabei fehlt es vor allem an einer kindgerechten Personalausstattung. Wie die Bertelsmann-Stiftung Mitte Oktober 2022 mitgeteilt hat, müssten in Hessen 10.700 Fachkräfte neu eingestellt werden, in Rheinland-Pfalz wären es 6.700. Insgesamt fehlen in beiden Bundesländern 64.000 Kita-Plätze. Dabei ist erwiesen, dass nur ein Kita-Platz mit einer hohen Qualität die Kinder in ihrer Bildung und Entwicklung fördern kann.
Appell an hessischen Sozialminister
Mit dem Mangel an Erzieher:innen sind auch evangelische Kindertagesstätten in der EKHN konfrontiert. Deshalb hat am 29. Oktober 2022 das Evangelische Dekanat Wetterau als Träger von 14 Kindertagesstätten die akuten Probleme des Systems "KiTa" in einem Offenen Brief an das hessische Sozialministerium adressiert. Der dringliche Appell an den Sozialminister Kai Klose lautet: "Nehmen Sie die Zahl der heute bereits fehlenden Fachkräfte in den Blick, stellen Sie sich Ihrem politischen Auftrag und schaffen Sie uns und allen Trägern die Möglichkeit, jetzt und für die nächsten 5 Jahre vereinfachte Zugänge zum Erzieher:innenberuf zu bekommen. Verschaffen Sie uns die Möglichkeit an Personal, an Quereinsteiger:innen und verwandte Berufsgruppen, zu kommen!" Die evangelische Kita-Expertin Sabine Herrenbrück ergänzt, dass die erste berufsqualifizierende Ausbildung in dem Bereich Kita die Sozialassisten:in sei.
Zentrum Bildung bietet Qualifizierungsprogramm für Handwerksmeister:innen zur Mitarbeit in KiTas an
Die Forderungen des Dekanates Wetterau unterstützt auch Sabine Herrenbrück, Leiterin des Fachbereiches Kindertagesstätten im Zentrum Bildung der EKHN: „Die Situation im Dekanat Wetterau lässt sich auf das ganze Kirchengebiet übertragen. Deshalb setzten wir im Zentrum Bildung alles dran, die evangelischen Kitas zu entlasten. Gerade läuft ein Qualifizierungsprogramm, bei dem sich Handwerksmeister:innen, Bachelor-Absolvent:innen und Fachwirte für die Mitarbeit in hessischen Kitas qualifizieren können.“ Dabei entsprechen die Abschlüsse der Ausgangsberufe dem Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) 6. Die evangelische Kita-Expertin teilt die Auffassung des Dekanats, dass der Zugang zu dem Berufsfeld noch weiter vereinfacht werden müsse: „Die Qualifizierung für die Mitarbeit in einer Kita sollte schon nach einer 3- oder 3 ½-jährigen Ausbildung möglich sein.“ Sie befürwortet, dass diesbezüglich das „Hessische Kinder- und Jugendhilfegesetz“ (HKJGB) verändert werden müsse. Die Qualifizierungsvoraussetzung solle deshalb von DQR 6 auf DQR 4 geändert werden.
Zudem weist Fachbereichsleiterin Herrenbrück auf weitere Maßnahmen hin, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. So bietet der Fachbereich Kindertagesstätten für Träger Fortbildungen wie die „Macht der Stellenanzeige“ ab dem 2. November 2022 an. „Wir erarbeiten, wie evangelische Kitas für Fachkräfte noch attraktiver werden können“, so Sabine Herrenbrück.
Qualifizierungsprogramm für die Mitarbeit in einer KiTa
Fortbildung: Macht der Stellenausschreibung
Kirche setzt sich für das Wohl von Kindern, Eltern und Kita-Personal ein
Im Dekanat Wetterau hat sich der Trägerverantwortliche Dekan Volkhard Guth für einen Offen Brief entschieden, "weil ich weiß, dass es allen Trägern von Kindertagesstätten in Hessen ähnlich oder gleich geht; weil ich als Dekan der evangelischen Kirche stellvertretend für andere sprechen kann, ohne Sorge haben zu müssen, dafür bei der nächsten Bürgermeisterwahl oder von der politischen Opposition abgestraft zu werden.“ Zudem habe die evangelische Kirche in den zurückliegenden Jahrzehnten bewiesen, dass sie KiTa-Arbeit gut könne. Dekan Guth wird deutlich: „Aber wir alle können es nicht mehr unter diesen Bedingungen. Wir können nicht länger zusehen, wie die gesamte Situation auf dem Rücken der Kinder, ihrer Eltern und der Mitarbeitenden ausgetragen wird. Wir müssen sie alle in diesem System schützen."
Grenzen des Verantwortbaren sind überschritten
Das Problem: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist die Arbeit mit den Kindern in unseren Kindertagesstätten weder leistbar noch verantwortbar. Und sie entspricht nicht mehr den Grundsätzen und Prinzipien, wie sie im Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder des Landes Hessen formuliert werden. Und das ist nicht die Schuld der Erzieher:innen oder der Träger. Das ist ein Systemfehler, dem ein Systemversagen zu folgen droht!“
Fachkräftemangel war absehbar
Die Situation ist nicht neu: „Bereits 2013, mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen KiTa-Platz für Kinder ab dem 1. Lebensjahr, war absehbar, dass dieser in der Realität nicht einzulösen sein würde. Schon damals fehlten erkennbar die nötigen Fachkräfte.“ Und weiter: „Der Fachkräftemangel ist keine zu erwartende Größe für 2025 oder 2030. Er ist heute Realität.“ Die restriktive Politik der Nicht-Anerkennung von Nicht-Fachkräften erschwere den Alltag in den KiTas vor Ort zusätzlich. Die Folgen: verkürzte Betreuungszeiten, die weder pädagogisch sinnvoll noch für die jungen Familien hilfreich sind. Oder die Schließung ganzer Gruppen, weil keine Fachkräfte da sind. Der Fachkräfteschlüssel sei nicht zu halten.
Sorge um Gesundheit der Erzieher:innen
Das gehe zulasten der Mitarbeitenden: „Seit zweieinhalb Jahren arbeiten unsere Mitarbeitenden unter Coronabedingungen. Und sie machen einen grandios guten „Job“! Doch neben den fehlenden Kolleg:innen kommt seit dieser Zeit die Sorge um die eigene Gesundheit und der Druck von Teilen der Elternschaft hinzu. Das alles geht tatsächlich mehr und mehr zulasten der Gesundheit der Erzieher:innen. Der Ton werde auf allen Ebenen rauer.
Warnung vor Totalausfall
Guth warnt vor dem Totalausfall: „Wir befinden uns in einer KiTa-Abwärtsspirale: Es gibt zu wenige Fachkräfte auf dem Markt, was zu Personalmangel führt. Die verbleibenden Fachkräfte sind erschöpft, werden krank oder wechseln den Träger mit der Hoffnung, bessere Rahmenbedingungen zu finden, was den erneuten Fachkräftemangel in anderen Einrichtungen nach sich zieht. Je länger der Druck dieses versagenden Systems auf den Erzieher:innen lastet, umso mehr ist zu befürchten, was sich jetzt bereits beginnt abzuzeichnen: dass wir in wenigen Monaten an vielen Stellen einen Totalausfall erleben werden. Zum Fachkräftemangel und den Coronawidrigkeiten wird massenhafter Burnout hinzukommen.“
Zahl der Kinder mit besonderen Bedarfen nimmt zu
Diese Situation wirkt sich auch auf die Kinder aus. „Die Kinder, die wir heute in den Einrichtungen betreuen, bekommen unter diesen Bedingungen nicht mehr die pädagogische Zuwendung, die Kinder vor 5 oder 10 Jahren noch bekommen haben“, so Guth. Nicht, weil wir es nicht wollen. Wir haben tolle Erzieher:innen! Aber wir schaffen es in diesem Rahmen nicht mehr! Vielerorts geht es nur noch darum, den Betrieb irgendwie normal aufrecht zu erhalten. Aber ich frage mich (und Sie): zu welchem Preis?" Dekan Guth nimmt wahr, dass wenig Zeit für die Kind bleibe. Er beschreibt die aktuelle Situation: „Wir haben heute Kinder in unseren Einrichtungen, die zum Teil keine andere Wirklichkeit als die eines Lebens unter den Bedingungen von Corona kennen.“ Die Zahlen „verhaltensauffälliger“ Kinder in KiTa- Einrichtungen stiegen signifikant. Auch Kita-Fachbereichsleiterin Herrenbrück erlebt: „Einige Kinder haben als Folge der Kontaktbeschränkungen besondere Bedarfe. Deshalb müsste auf diese Kinder besonders eingegangen werden. Das können viele Erzieher:innen nicht leisten, weil sie mehr als ausgelastet sind.“
Entscheidungsoptionen, um Kinder und Personal zu schützen
Aus seinen Ausführungen leitet Guth direkte Handlungsappelle ab: „Für mich als verantwortlichen Trägervertreter heißt das, das zu tun, was ich mit diesem offenen Brief gerade mache: Kommunikation mit maximal verantwortbarer Offenheit. Für mich heißt es aber auch: Ich schütze meine Mitarbeiter:innen vor einem System, das in Kauf nimmt, dass sie mittelfristig ernsthaft erkranken. Auch wenn es mich schmerzt und Konflikte bedeutet: Ich werde weiterhin soweit gehen müssen, Gruppen zu schließen und Kinder abzuweisen, weil es der Personalschlüssel gebietet. Zum Wohl meiner Beschäftigten! Und zum Wohl der Kinder, die uns in unseren KiTas anvertraut sind!“
Forderung nach vereinfachten Zugängen zum Beruf
Für den Minister hieße das: „Nehmen Sie die Zahl der heute bereits fehlenden Fachkräfte in den Blick, stellen Sie sich Ihrem politischen Auftrag und schaffen Sie uns und allen Trägern die Möglichkeit, jetzt und für die nächsten 5 Jahre vereinfachte Zugänge zum Erzieher:Innen- oder Kinderpfleger:innenberuf zu bekommen. Verschaffen Sie uns die Möglichkeit an Personal, an Quereinsteiger:innen und verwandte Berufsgruppen, zu kommen! Jetzt und nicht erst in drei, fünf oder zehn Jahren! Um der Kinder willen, um der Erzieher:Innen in den Einrichtungen willen und für eine gute Zukunft unserer Gesellschaft!"
Maßnahmen des Ministeriums
In einer Mitteilung von 20.10.2022 teilt das hessische Sozialministerium mit, dass es um die „erhebliche Lücke bei der Anzahl der im Bereich der frühkindlichen Bildung tätigen Fachkräfte“ weiß. Dem Problem sei mit einem Bündel an Maßnahmen begegnet worden, beispielsweise wären finanzielle Mittel für den Personalausbau zur Verfügung gestellt worden. Zudem werde eine „Fachkräfteoffensive Erzieherinnen und Erzieher“ umgesetzt. Zudem teilt das Ministerium mit, dass es einem Dialogprozess mit den Fach- und Trägerverbänden sei. Das bestätigt auch Kita-Fachbereichsleiterin Herrenbrück: „Wir sind mit dem Land Hessen im Gespräch. Aber Änderungsvorschläge werden unter den Beteiligten diskutiert und es dauert länger, bis sie umgesetzt werden.“
Offener Brief des Dekanates Wetterau
Evangelische Kindertagesstätten in Hessen-Nassau
[ahart/red]